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Samstag, 18. September 2021

Hegel und seine Zeit


Hegel

Um Hegel zu verstehen, begreift man ihn am besten als Kind seiner Zeit. Es war eine Zeit des Übergangs. Als die französischen Revolutionäre die Bastille stürmten, war Hegel 19 Jahre alt. Wie viele junge Deutsche schwärmte auch er von den Verheißungen der Freiheit. Doch die Begeisterung kippte bald in blankes Entsetzen. Die Französische Revolution mündete in eine Schreckensherrschaft – und schließlich im Krieg.

Das heutige Deutschland war damals zersplittert in mehr als 300 Kleinstaaten, zusammengehalten durch das »Heilige Römische Reich« unter österreichischer Führung, bis dieses unter dem Druck Napoleons zusammenbrach. 1806 besiegte Napoleon auch die preußische Armee und herrschte damit über praktisch ganz Kontinentaleuropa. Unter französischer Herrschaft erlebte Preußen eine Zeit liberaler Reformen, darunter die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Modernisierung des Bildungswesens. Doch nach Napoleons Niederlage zerschlugen sich die demokratischen Hoffnungen rasch: Der preußische König unterdrückte die Reformbestrebungen, die Restauration begann. Das war der konfliktreiche Hintergrund, vor dem Hegels Philosophie entstand.

In Deutschland herrschte zugleich eine geistige Aufbruchsstimmung. Man wandte sich dabei vor allem gegen das mechanistische Aufklärungsdenken, das den Menschen auf eine Art Maschine reduzierte. Auf der einen Seite forderten Romantiker wie Johann Gottfried Herder (1744–1803), den Menschen wieder als unteilbares Ganzes zu sehen, als Einheit von Körper und Geist, die im Einklang mit sich selbst und der Natur steht. Die andere Strömung propagierte die Idee der moralischen Freiheit.

Ihr Ausgangspunkt war die Ethik Immanuel Kants. Kraft seiner Vernunft hat der Mensch die
Freiheit, sich über seine natürlichen Neigungen und Triebe hinwegzusetzen und nach selbstgewählten Prinzipien zu handeln. Wir sind eben keine Maschinen, wie manche Aufklärer
dachten, sondern selbstbestimmte, rationale Wesen.

Hegel und Kant erfanden den deutschen Idealismus, während die Welt der Könige am Rand des Abgrunds stand, um bald zu Bruch zu gehen. England, Preußen und Frankreich hatten sich im Siebenjährigen Krieg bis über alle Ohren verschuldet, Steuererhöhungen lösten den Amerikanischen Bürgerkrieg und die Französische Revolution aus und schon ist nichts mehr wie es war.

Hegel ahnte damals schon, was imperiale Überdehnung bedeutet, er analysierte den Zeitgeist, entdeckte, dass Zeit ein Prozess ist, bewegt durch Thesen und Gegenthesen von Menschen, die zu neuen Synthesen führen, die neue Anti-Synthesen provozieren und somit in einer unverwechselbaren Zeitgestalt fortlaufender Prozesse münden. Seine geniale Dialektik ist immer noch unerreicht und wird von den meisten nicht verstanden, auch von heutigen Politikern nicht, die glauben, das Ende der Geschichte erreichen zu können, indem sie ihre Anti-These militärisch oder ökonomisch plattmachen.

So versteht auch niemand, dass Hegel-Schüler Karl Marx seinen Lehrer von idealistischen Kopf auf die materialistischen Füße stellte und den Prozess der bewegten Massen beschrieb, die mehr Gerechtigkeit und ein besseres Leben verlangen, weil sie hungern nach Essen und Freiheit. So verteufeln die Anti-Hegelianer immer noch die marxistische Anti-These, als handle es sich um den Teufel und nicht um einen notwendigen Bestandteil hegelianischer Dialektik.